Wüstenclowns (Kurzgeschichte)
Oder: Traum und (Un-)Wirklichkeit
Anthologie aus dem P&B-Verlag
Der Clown
Über die Ausschreibung:
Meine erste Story, die von einem Verlag veröffentlicht wurde! Auch wenn ich es gewohnt bin, für jedes Gefühl, jede Regung, alle Stimmungen Worte wie kost- und formbare Seifenblasen in Lüfte zu werfen und mit ihnen zu jonglieren – als die Mail der Lektorin Constanze Mendig in meinem Postfach blinkte war ich ohne Sprache. Unaussprechlich glücklich.
Motiv(ation)
Der ernste Clown (oh mein Papa …), traurige Clown, lustige Clown – zu allen Zeiten eine Institution, die in den Köpfen der Menschen Ideen schuf, ihren Gedanken Flügel schenkte. Mein erstes inneres Bild war ein Clown, der nicht lacht, zumindest nicht mehr ehrlich und aus tiefem Herzen. Schon sah ich ihn, meinen namenlosen Clown, dem die Lebens- und Lachmotivation irgendwo auf seinem Weg verloren gegangen war. Eine oft erzählte Geschichte. Aber: Was wäre, wenn es für solch traurige Gestalten eine Instanz gäbe, eine Dimension zwischen Welten, um den Clown zu richten, aufzurichten oder gar zu vernichten?
Im Reich der Phantastik ist alles denkbar, alles möglich.
Die Story
Phantom der Kindheit
Mein Clown ohne Namen bekommt Besuch von einem wahrlich alten Bekannten aus Kindertagen 🐻 🎩
»Man nennt mich Jerome. Bitte sei ohne Angst. Weder mein Name muss dich schrecken, noch meine hochgewachsene Gestalt. Sieh, ich trage einen alten Mantel, braun, mit Flecken, unendlich vielen Falten, unerschöpflichen Taschen. Ich habe für jeden etwas dabei. Safran für die Guten, Öle für die Klugen, Steine für die Bösen, alle zu erlösen.“
Ein nicht zu deutendes Lächeln.
„Als du noch Kind warst, sprachen wir oft miteinander. Heute komme ich, weil ich dich warnen will. Alles, was ihr Menschen besitzen könnt, ist euer Verstand und eure Liebe. Beides müsst ihr einsetzen, um glücklich zu sein, eins mit einer Welt, die mehr und mehr zerbricht. Wenn ihr vergesst, dass ihr der Kitt seid, der sie zusammenhält, geht diese Welt, wie ihr sie kennt, zugrunde. Daran muss nichts Schlimmes sein. Viele Welten habe ich zerbrechen und neu erstehen sehen. Manche waren besser als die alten. Doch bedeutet jede Explosion, etwas Unwiederbringliches geht verloren. In allem Hässlichen wohnt auch Schönes, im Verborgenen leuchtet Helles, aus Verdorbenem entsteht Neues. Sieh Dir einen Komposthaufen an: Millionen Maden und Würmer kreieren in unermüdlicher Schaffenskraft Humus, der neues Werden hervorbringt.
Ein Wunder und kein geringes!«
Boten der Zukunft
Jerome schickt den Clown auf eine Reise in die sehr nahe Zukunft.
»Zeitschriften, Zeitschriften! Druckfrische Auflage! Unsere Zeitschrift informiert Sie über alles Wichtige, alles Neue, alles Aufregende! Heutige Schlagzeile: Toter Clown am Flussufer gefunden! Nur 50 Shilling! Vielen Dank, mein Herr, hier ist Ihre Zeitung, Sie werden den Kauf nicht bereuen. Zeitschriften, druckfrische Auflage …«
Wir schauen dem Gentleman über die Schulter, wie er liest 📰:
Am frühen Morgen fanden Straßenarbeiter in der Nähe der Uferstraße einen toten Mann. Er trug ein Clownskostüm, sein verlaufenes rot-weißes Make-up bedeckte lückenlos sein Gesicht. Dennoch sah man die Schönheit seiner Gesichtszüge durch die Schmiere schimmern, rein und kraftvoll. Das Erstaunlichste jedoch war das Lächeln auf seinem Gesicht. Binnen kürzester Zeit sprach es sich herum, jeder wollte den toten Clown mit dem faszinierenden Lächeln sehen. Die Polizei hingegen sah sich bald gezwungen, den Platz abzusperren und die Leute heimzuschicken. Wir zitieren einen Augenzeugen: »Dies ist das friedvollste, schönste und unglaublichste Lächeln, das ich jemals in meinem ganzen Leben sah. Und ich bin 86 Jahre alt«.
Schreibende Seelen
Unverhofft, ungefragt und ungebeten wird der Clown von einer Schreibenden Seele, einem Halbschatten, mit seinem Leben konfrontiert.
Das Lachen des Clowns klang nicht mehr wahr, er lachte ein mechanisches Roboter-Gelächter. Dabei gab es Zeiten, da zählte er zu den wunderbarsten Lachenden der ganzen Welt. Natürlich bemerkten es Erwachsene nicht, aber die Kinder … Kinder kommen zum Circus, um den Clown zu sehen. Natürlich! Sie freuen sich über seine Späße, die rote Nase, Purzelbäume, am meisten aber freuen sie sich über sein Lachen, wenn es sie mitreißt, sie glauben lässt, diese Welt ist gut und freundlich. Eine Welt, in der man fallen und lachend wieder aufstehen kann. Die Kinder fühlten sehr deutlich, mit diesem Clown stimmte etwas nicht. Er war nicht bei der Sache – und das machte sie traurig. Mit anderen Worten: Er betrog sie.
Blaue Wüste
Unversehens wird der Clown durch eine Leere katapultiert, um in der Blauen Wüste seine letzte Chance zu erhalten, was immer das bedeuten mag.
Ungläubig schaute der Clown um sich. Blickte in gebrochene Augen unzähliger ihm fremder Clowns. Sitzend bildeten sie einen Kreis, so groß, dass er sich in der Ferne verlor. Ohne Anteilnahme starrten sie vor sich hin, keiner sprach, niemand bewegte sich.
Der Richterspruch
Nun erlebt der Clown einen folgenschweren Trip: In sein Leben, das Sein, ein Ich. Mit einem Ziel:
»Danach wird das Urteil verkündet werden.«
Zitternd antwortete der Clown: »Wollt ihr sehen, wie ich längst Vergangenes heute bewältigen würde? Dies war mein Leben. Wofür wollt ihr mich verurteilen?«
Ungeduldig erwiderte die Wolke: »Wir sind nicht deine Richter. Weder urteilen noch verurteilen wir. Aber wir lassen Vergangenes in deiner Seele sichtbar werden. Nach deiner Reise wirst DU es sein, der das Urteil spricht. Wir schulden dir dann nur noch den allerletzten Gefallen: Deine Seele an jenen Ort zu bringen, den du absichtlich oder unabsichtlich gewählt haben wirst.«
Der Clown öffnete den Mund, doch die Stimme unterbrach abermals: »Bitte mich um nichts. Ich habe kein Mitleid mit denen, die es versäumten, wahrhaft zu leben. Nicht mehr sind sie als schlingernde Schiffe, verloren in elementaren Kräften der Wirbelstürme und hoch aufschäumenden Wellen des mächtigen, uralten Ozeans.«
Mein Lieblingszitat aus Wüstenclowns ist der letzte Satz:
»Mit überwältigender Klarheit sah er, wie Wasser aus winzigen Tropfen bestand, funkelnd, glitzernd wie gerade geweinte Tränen, und wusste, was er nach langer Zeit des Vergessens, Verschüttens wiedergefunden hatte: Die kostbare Gabe zu staunen 🌟.«