Kirmes-Romantik
Kurzgeschichte
Oder: Der uralte Clown und der Ring
Anthologie aus dem Schweitzerhaus-Verlag
Das Haus am Ende des Weges – Auf den Spuren von Edgar Allan Poe
Über die Ausschreibung
Hier hat uns Karin Schweitzer auf die Fährte des großartigen Edgar Allan Poe gelockt. Gewünscht wurden unheimliche Geschichten mit Stil, schaurig-schöne Momente, mörderisch-gruselig, gerne auch mit psychologischer Würze.
Motiv(ation)
Ich liebe Geistergeschichten, Mystisches, den inneren und äußeren Kampf zwischen Gut und Böse, Gothic Novel, Dance Macabre, Traum und Wahnsinn. Ich habe wohl alles von Edgar Allan Poe verschlungen, ebenso von H. P. Lovecraft (Cthulhu-Mythos!), E.T.A. Hoffmann (Elixiere), H. G. Wells (Der Unsichtbare), Nikolai Gogol (Wij) und vom frühen Stephen King. Ich glaube kaum, dass ein neuzeitlicher Autor wie Poe schreiben könnte. Aber man darf ja nacheifern 😉.
Die Story
Kirmesromanik erzählt von zuckriger Jahrmarktluft 🎪, einem jungen Liebespaar, einer Seherin, DEM scharlachroten Ring, einem Scheiterhaufen in der Vergangenheit, unheilvollen Flüchen und einem wirklich sehr alten Clown, des Lebens endgültig überdrüssig. Aber der Reihe nach.
Jahrmarktsbesuch
Josephine will sich auf der Kirmes 🎠 die Zukunft prophezeien lassen und – wie so häufig in Beziehungen ☺ – willigt ihr Freund Ben zwar unwillig, doch zähneknirschend ein. Was soll schon passieren? Bald sitzen sie vor der Seherin, erhaben, anmutig, veilchenblaue Mitternachtsaugen.
Jäh zischt die Seherin, fixiert die Karten mit halb geöffneten Augen, ihr üppiger Busen hebt und senkt sich. Dann schichtet sie die Karten übereinander, fingert Geld aus einer abgewetzten Lederschatulle und wendet sich an Ben, nicht an Josephine, die Fragende: »Keine Antwort von Karten. Bezahlung zurück.«
Abschiedsritual
Das war nicht, was Josephine gehofft hatte. Was sie aber genauso wenig erwartet hat: In einem (auch von ihr) unbeobachteten Moment wird Ben zum Dieb, magisch angezogen vom Ring, der ihm plötzlich auf der Lederschatulle auffällt: scharlachroter Stein, gehalten von kupfernen Schlangen.
Zum Abschied vom Jahrmarkt:
Josephine stellt sich auf die Fersen und küsst Ben auf den Mund. Über ihre Schulter hinweg sieht er, wie die Seherin ihnen nachblickt, ein beklemmend angstvolles Gesicht ohne Gnade. Sehr langsam hebt sie die linke Hand wie zum Gruß. Zwei Tage später wird Ben davon überzeugt sein, dass dies zum Ritual gehörte.
Galgengeschenk
Ohne seine Herkunft zu ahnen, freut sich Josephine riesig über den tollen Ring, welche Frau würde das nicht? Sie steckt ihn an, doch ist ihre Reaktion kaum normal:
Josephines Iriden lodern grünlich. Sie sitzt sehr aufrecht, fast thronend, der Körper aufs Äußerste gespannt. Fiebrig starrt sie auf die kahle Wand, ihre linke Hand umklammert die Finger ihrer rechten, als wollte sie den Ring gewaltsam abreißen. Übergangslos erschlaffen ihre Muskeln, sie fällt kopfüber in sich zusammen, den rechten Arm von sich gestreckt, als gehörte er nicht mehr zu Josephine und ihr Kopf rutscht in Bens Schoß. Schweiß perlt auf ihrer Stirn, Ben wischt ihn behutsam mit dem Pulliärmel weg.
»Ein furchtbarer Migräne-Anfall«, wispert sie.
Fressattacke
Ehrlich (vorher-)gesagt: Sogar eine Monstermigräne wäre ein gütigeres Schicksal. Denn ab jetzt wird Josephine jünger – und das liegt nicht an der Gesichtscreme, die ihr die Seherin verkauft hat. Wir erinnern uns: In der Wachstumsphase brauchen Kinder viel Schlaf. Wir lernen: Wenn wir verflucht jünger werden auch. Und dieser Wahnsinnshunger …
Als Ben von der Schicht heimkehrt, findet er Josephine zähneklappernd auf dem Sofa, trotz sommerlicher Temperaturen in Decken gehüllt. In der Küche stapelt sich Geschirr, in der Spüle ruht ein Messer, blutbefleckt.
»Ich hatte den ganzen Tag Bärenhunger«, stößt sie hervor. »Musste essen, essen, wie ein Tier.«
Ben deutet auf einen Teller voller Knochen. »Was ist das?«, fragt er irritiert.
Josephine beginnt zu weinen. »Katie.«
Er schrickt zusammen. »Die Nachbarskatze?«
Erkundungstour
Als einige Stunden später Josephines Augen in einem nicht Natur gegebenen Grün glitzern, hält Ben es nicht mehr aus und stürmt zur Kirmes.
Er jagt durch die Stadt, vorbei an erleuchteten Schaufenstern, hastenden Menschen, begreift die menschliche Normalität als trüge sie ein fremdes Wir, zu dem er nicht mehr gehört. Nirgends hält er an, auch nicht, als er den Jahrmarkt erreicht. Er hetzt vorbei an der geschlossenen Budenstraße, der still stehenden Schiffschaukel, der wartenden Geisterbahn, dem schlafenden Kettenkarussell, der verwaisten Ponyreitbahn, dem leeren Panoptikum, der Achterbahn, geisterhaft wie ein metallenes Skelett – derzeit keine Billetts zu verkaufen.
Clownstränen
Doch was Ben im Wagen der Seherin vorfindet, trägt keinesfalls zu seiner Beruhigung bei.
Luftballons säumen den Wagen der Seherin, viele davon zerplatzt gleich nie gelebten Träumen. Die Tür steht offen, Ben sieht den Clown im Wagen, kniend, weiß-rot-schwarze Schminke durch Tränen fast weggespült, tönern murmelnd: »Male fide. Male fide. Male fide.«
Sich umdrehend hebt er seine Fäuste in weißen, befleckten Handschuhen, als verfluchte er die Welt und gibt den Blick frei auf das vor ihm ausgestreckte Geschöpf aus geborstenen Knochen, gerissener Pergamenthaut, wirren Haarbüscheln und veilchenblauer Augapfelgrütze.
Über der Szenerie dreht sich ein Glasmobile klirrend im Tanz.
Geschichte(n)
Die Lebensgeschichte des Clowns beginnt vor mehr als 400 Jahren, in einem Wanderzirkus. Es ist die Geschichte eines unbedachten Verrats aus Eitelkeit, einem Mönch, einem Scheiterhaufen, einem Fluch und einer sehr großen Liebe. Und dem scharlachroten Ring, der auf jeden Menschen anders reagiert. Ben flieht bestürzt, doch sehr bald sehen Clown und Ben sich wieder.
Die Nacht hat den Tag weggespült, als Ben den Clown auf den Stufen des Wagens der Seherin findet. Zu seinen Füßen fließt schaumige Zuckerwatte, rosarot, Dreckspritzer haben sich wie dunkles Blut mit der Zuckermasse vermischt.
»Hat sich auch ihre Seele rückwärts entwickelt?«, fragt Ben leise.
Der Clown zuckt mit den Achseln: »Erst am Anderort werden wir erfahren, ob wir erlöst sind oder verdammt.«
Link zum Schweitzerhaus Verlag:
Mein Lieblingszitat aus Kirmesromantik
Unruhig schläft er in dieser sternklaren Nacht, immer wieder aufgeschreckt von ihrem Zittern und seiner Sorge.