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Das falsche Leben der Abigail Thornton

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Das falsche Leben der Abigail Thornton

Unvergessen (Kurzgeschichte)

Oder: Das falsche Leben der Abigail Thornton

Anthologie aus dem Verlag Constanze Mendig

Kalter Krieg und heiße Herzen – Liebe kennt keine Grenzen

Constanze Mendig war die erste (!) Lektorin, die eine meiner (!) Kurzgeschichten Wüstenclowns  ausgewählt hat (beim P&B Verlag in der Anthologie Der Clown). Ein unbeschreibliches Gefühl … Später durfte ich meine Story Unvergessen in einer Anthologie ihres Verlages veröffentlichen – wobei wir erst im Nachhinein merkten, dass wir uns schon einmal über den literarischen Weg gelaufen sind   🙂 

Unvergessen

Obwohl es um ein ganzes langes Leben geht, verlassen wir den Küstenort Brighton, etwa eine Zugstunde von London entfernt, für keine Minute. Wir betreten nicht einmal Brightons fantastischen Kiesstrand. Nein, wir beobachten eine betagte Lady mit spatzenbraunen Augen, Abigail Thornton, wie sie am frühen Morgen einem Postboten mit blondroten Locken und Sommersprossengesicht die Reihenhaustür öffnet. Er überreicht ihr einen Brief, der sie im wahrsten Sinne des Wortes schwindeln lässt.  

»1942 in New York aufgegeben«, verkündete der Postbote mit ehrfürchtigem Ton.

»Siebzig Jahre brauchte er, um mich zu finden«, raunte Abigail. »Wo war er so lange?«

Nach so langer Zeit kann der Inhalt des Umschlags auch noch ein wenig länger warten. Wir sind schließlich in England  🍵🍵

»Was machen Sie?«, fragte der Postbote in der Küchentür.

»Nach was sieht es aus?«, gab Abigail zurück. „Ich koche frischen Tee. Für Sie und mich.«

»Aber die Post -«

Ohne ihn anzusehen schlurfte sie zum Herd. »Wie lange tragen Sie schon in unserem Bezirk aus?« 

»Seit exakt gestern, Miss.«

»Ihre Vorgänger waren nie vor Mittag hier.« Sie linste zur eierschneehellen Küchenuhr. „Jetzt ist es kurz vor neun. «

»Danke, Miss. Ähm, ich könnte Apfelkuchen beisteuern. Meine Mutter hat ihn gebacken.«

Abigail hat sich wirklich hervorragend im Griff, aber irgendwann wird der längste Aufschub unerträglich, auch wenn der Brief noch eine Weile ungelesen bleiben wird.

Abigail lugte zum Brief. Mit silbriger Kuchengabel löste sie ein Apfelstückchen aus dem Kuchen, in ihrer Nase mischte sich der Geruch säuerlicher Früchte mit würzigem Zimt und süßen Mandeln. Zögerlich sickerte die Geschichte ihrer Liebe über den Küchentisch.

Wie alles begann

Eine nie gelebte, doch zu keinem Zeitpunkt vergessene Liebe, die durch den Brief aus längst vergangenen Tagen zum Echo der Gegenwart wird:

»Archibald Thisseas Löwengart kam 1938 mit seinen Eltern nach Brownhills, wo ich mit meinen Eltern wohnte. Es war eine Flucht. Archies Vater Nathan hatte in Deutschland eine Textilfabrik besessen, doch war es dort zu gefährlich für  Juden geworden. Er verkaufte zum Spottpreis, beschwerte sich seine Frau Niobe, die aus einem Vorort von Athen stammte. Sie waren auf der Durchreise, besuchten Niobes Schwester, die nach Brownhills geheiratet hatte.« Abigail schob das Apfelstück in ihren Mund, kaute kurz. »Archie wohnte vier Monate und fünf Tage in unserer Nachbarschaft. Die besten vier Monate und fünf Tage meines Lebens.«

Drachenlady

Zwei Drachen spielen eine wichtige Rolle, beide auf einem seinerzeit in Brighton gastierenden Jahrmarkt erstanden.

»Zum Schluss kaufte Archie an einem Stand mit allerlei Krimskrams zwei Holzdrachen, der eine feuerrot, der andere türkisblau. Ihn faszinierten diese Geschöpfe, er fand sie schön, geheimnisvoll und einzigartig. Archie schenkte mir den türkisfarbenen. ‚Diese Drachen weben unser ewiges Band‘, glaubte er. Tja«, ihre Lider flatterten, »da hatte er sich getäuscht.«

Jadon [der Postbote] starrte auf seinen nun leeren Teller. »Er blieb nicht«, folgerte er.

Nein, denn Archibald musste England verlassen, das Ziel seiner Eltern war nicht England, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Geschichte spielt zu einer Zeit, in der niemand wusste, dass es jemals Internet und Handys geben würde. Das Telefon war zwar schon erfunden, aber bei weitem nicht in jedem Haushalt zu finden – wenn doch, wurde es wegen der hohen Kosten nur zu besonderen Anlässen benutzt. Das transatlantische Telefonkabel wurde erst 1956 in Betrieb genommen und zu Abigails Jugendzeit kostete eine Minute Telefonat über Langwellenfunk unglaubliche 9 Pfund – und das alle 3 Minuten. Zum Vergleich: Ein deutscher Arbeiter verdiente in den 1930er Jahren monatlich vielleicht 200 Reichsmark – für England oder USA habe ich leider keinen Vergleichswert gefunden. Das gängige Kommunikationsmittel war – der wunderbare, kostbare und in Zeiten von SMS leider hoffnungslos altmodische (auch: Liebes-💌)Brief.

Auch jene Zeilen, die Abigail nach über siebzig Jahren lesen darf:

„Meine geliebte Aby,

die Zeit ist ein Ungetüm, sie verstreicht unaufhaltsam. Seit wir in Amerika angekommen sind, schreibe ich Dir jede Woche, aber, meine Drachenlady, warum antwortest du nie? Ein kurzer Brief von Dir würde mich zum glücklichsten Mann der Welt machen! 

Zum Neuesten. Vor Kurzem habe ich in einer Spedition in New York angefangen, Im- und Export. Der Senior-Boss meinte heute, er habe Großes mit mir vor. Ist das nicht famos? Ich akzeptiere jede Stellung, wenn sie mir nur genügend Geld verspricht, Dich bald nachkommen zu lassen. 

Ach, Aby, wenn ich am Hafen stehe, fühle ich Dich, als habe der Ozean unsere Liebe gespeichert. Ich verzehre mich nach Dir, wie ich mich bisher nach keinem Menschen gesehnt habe. Liebste, wir haben unser ganzes Leben vor uns, mein Herz. Ich warte auf dich. Küsse meinen Drachen, ich werde es spüren. Meine Drachenlady, gib uns nicht auf! Bitte schreibe bald.

In alle Ewigkeit Dein

Archie“

Warum hat keiner von Archibalds Briefen jemals seine Abigail erreicht?  Wird es, im jetzigen Zeitalter von Internet und Mobile, einen Weg geben, dass A & A im hohen Alter noch einmal voneinander hören, sich erzählen dürfen, wie es ihnen in ihren voneinander getrennt gelebten Leben ergangen ist? Oder haben die Zähne der unaufhörlich mahlenden Zeit sämtliche Spuren ausgelöscht …

Mein Lieblingszitat aus Unvergessen ist der letzte Satz:

»Der schrille Ruf eines verspäteten Seeadlers verabschiedete Abigail in die zügig aufziehende Nacht.«

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