Über „Kaltmamsell oder:
Als Gott zweifelte und auf Reisen ging“
Kaltmamsell ist eine Erzählung, ein Booklet aus dem literarischen Genre Phantastik, was – dies sei der guten Ordnung halber erwähnt ☺ – nicht schlicht ein Synonym für Fantasy ist. Phantastische Literatur wird mit vielen Worten beschrieben: traum- oder märchenhaft, irreal oder surreal, wagemutig oder unvorstellbar. Aber immer auch irgendwie übersinnlich, metaphorisch, paranormal. „Auch“, weil in Phantastik das schier Unglaubliche ungefragt und unerwartet in unsere Realität schlüpft oder platzt – je nach Belieben und gerne unter Missachtung aller Naturgesetze. So manches Mal auch gesellschafts- und/oder menschenkritisch.
Die Story
Bevor wir die Kaltmamsell kennenlernen, treffen wir im Intermundium (gemäß DUDEN: „lt. Epikur zwischen unendlich vielen Welten liegende, von Göttern bewohnte Zwischenräume“) den Tod und das Schicksal.
Ja, wirklich! Unglaublich, nicht wahr ☺?
Von dieser Schaltstelle aus bewahren der mit den göttlichen Lebenslisten bisweilen überforderte Tod und das besonnene Schicksal den göttlichen Betrieb vor dem Kollaps, nachdem Gott seine Schöpfung sich selbst überlassen hat.
Doch dann wird anno 1812 am Weihnachtsmorgen ein Kind geboren, das Tod und Schicksal gründlich durcheinander wirbelt: Claire, ein Mädchen mit einem Lebensweg, der in der Weltenordnung nicht ohne weiteres vorgesehen war.
„Kaltmamsell“ – Zitate
Schicksal & Tod
Weihnachten anno 1812: Während Schicksal in der Fatum-Halle seinem unergründlichen Job nachgeht, arbeitet Tod die lästige Befüllung der Lebens- und Todeslisten ab:
- Ordnungsgemäß ins Jenseits befördert: 147.518 Menschen – alle fein säuberlich namentlich aufgeführt
- Eigenmächtig ohne Kontrakt aus dem Erdenleben geschieden: 17.436 Menschen
- Ungeplanter Unfall und unvorhergesehener Mord: 35.873 Menschen (eine Rubrik, die es zu Zeiten Gottes nicht gab)
- Geburten – hier kommt Tod nicht weit, denn er muss sich Unterstützung holen:
Vor einer hohen walnusshölzernen Flügeltür hielt Tod an. Dreimal schlugen seine Klauenhände mit dem Messingklopfer an das Holz.
»Schicksal«, rief er. »Ich muss Euch sprechen.«
»Ich bin beschäftigt«, erscholl eine gewaltige, glockenhelle Stimme.
»Ein Fehler in der Menschenkette«, donnerte Tod.
»Tritt ein«, gebot die Glockenstimme.
Knarzend schwangen die Flügeltüren auf und Tod betrat die imposante Fatum-Halle. Rings glitzerten und funkelten die Wände mit einer Kuppeldecke um die Wette.
»Nein«, echote es. »Bitte nicht in dieser Gestalt.«
»Entschuldigt. Manchmal mag ich die altmodische Vorstellung der Menschen von mir allzu sehr.«Tod schnipste und stand als knollennasiger Farmer im Raum. Wände und Kuppel wandelten sich in Blumenmeere. Schwaches Meeresrauschen erfüllte die Halle. »Ein Mensch ohne Schicksal und vorbestimmte Todesstunde wurde geboren.«
Claire & London
Die Rede ist von Claire, an jenem Weihnachtsmorgen des 19. Jahrhunderts als fünftes Kind des Londoner Hufschmieds Edward Hattrick zur Erde gekommen. Als die Hebamme ihrem Vater, der nach vier Töchtern auf den ersehnten Stammhalter gewettet hat, die freudige Botschaft überbringt, beschlägt er gerade einen Rappen und muss seine Enttäuschung erst einmal überwinden.
In ihrer ersten Nacht träumte Claire von rot-warmer Geborgenheit, aus der sie in eine kühle, nach kalter Kohlsuppe stinkende Welt gepresst worden war. An ihrer Krippe hing ihr Weihnachtsgeschenk, eine aus Pferdehaar geflochtene Kette, an der ein hölzernes Kreuz im Takt der Weltenmusik baumelte.
Kindheit & Armut
Claire wächst in bescheidenen Verhältnissen, aber wohl behütet bei ihren Eltern Freya und Edward sowie mit ihren Schwestern Hope, Georgia, Molly und Faith auf. Früh lernt sie, wohnen und essen kostet Geld, und schon im zarten Alter von vierzehn Jahren ändert sich ihr Leben abrupt und endgültig:
»Hier.« Freya übergab die Schlüssel für Haus und Schmiede an Mr. Farnsworth, den Verpächter.
»Danke«, entgegnete er und deutete durch Kopfnicken seine Wertschätzung an. »Doch was wird jetzt aus Ihnen?«
»Armenhaus«, antwortete Freya gallig und nahm den Koffer mit ihren letzten Habseligkeiten. »England geht vor die Hunde und keiner schert sich darum.«
»Zu viele werden von den neuen Fabriken angezogen«, bekräftigte Mr. Farnsworth. »Farmer verlassen ihr Land, kommen nach London, doch es gibt nicht genügend Unterkünfte, schon gar nicht genug Arbeit. Die Löhne verfallen, das Volk hungert und verwahrlost, während einige wenige sich Bäuche und Taschen vollstopfen.«
Schuld & Schulden
Bald ist Claire im von Industrialisierung, Armut und bald der Cholera gebeutelten London auf sich alleine gestellt, während ihr Vater im Schuldgefängnis vegetiert. Doch was auch immer ihr widerfährt, ist sie stets stark genug, immer wieder einen Neubeginn zu finden und zu wagen.
Vom Schuldgefängnis lief Claire meilenweit zu einer Spinnfabrik. Sie fand dort eine schlecht bezahlte Anstellung und ein Bett im fabrikeigenen Arbeiterinnenschlafsaal. Als Kopfkissen diente ihr ein Bündel.
»Ein Anfang«, dachte sie.
Mensch & Humanität
Claire erlebt unfassbare Kaltherzigkeit, aber auch die unglaubliche Güte der Menschen. Sie entflieht den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen der Spinnfabrik, verdingt sich als Küchenhilfe, verliebt sich, wird Mutter eines Sohnes, erfüllt sich ihren Traum als selbstständige Kaltmamsell zu arbeiten, bewahrt eine junge Eiche vor der gewaltsamen Entwurzelung und wird unter Einsatz ihres Lebens in einer Nacht zur Heldin Londons. Später hilft sie Dr. John Snow – der wirklich zu dieser Zeit lebte – im Kampf gegen die Cholera. Allzu oft wird Claire bitter enttäuscht und tief verletzt. Doch niemals, keine Sekunde, verliert sie den Glauben an das Gute, obwohl ihre mystische Verbindung zum Himmel bis zum Ende ihres Lebens ein auch vor ihr verborgenes Geheimnis bleibt.
Claire stützte ihr Kinn mit den Fingern. »Ich glaube nicht an Hass, er wütet wie Feuer und in seiner Glut kann ein ganzes Leben verbrennen.«
Tod & Schicksal
Zum Abschluss, nach Claires Tod, reisen wir noch einmal nach Intermundium und belauschen Tod und Schicksal, wie sie Resümee ziehen.
Schicksal: »Claire gab ein Beispiel, vor dem sich viele Menschen fürchten, zu oft erschrecken sie vor dem Guten, obwohl sie es in Fülle in sich tragen.«
»Klingt sonderbar«, murmelte Tod.
»Es ist menschlich.« Die Glockenstimme schwang lächelnd. »Wusstest du, dass sie es menschlich nennen, wenn jemand Gutes tut?«
Die Stimme lächelte stärker. »Das ist ein Anfang.«
Wird Gott jemals zu seiner Schöpfung zurückkehren?