Oder: Ein Engel aus Berlin
Anthologie aus dem Hierreth Verlag, Herausgeber: Carola Kickers
Sterblich – Engeln über die Schulter geschaut
Über die Ausschreibung
Aus dem Vorwort: »Eine Anthologie über Engel in vielen Facetten. Melancholische, rührende, heitere und fantastische Geschichten. Geschichten zum Nachdenken, so vielseitig wie die Menschen, die von den Engeln betreut werden und ihren Perspektiven auf die himmlischen Wesen.«
Motiv(ation)
Sterblich – ein Thema, das jeden Menschen betrifft und das wir doch so gerne ausblenden. Auch ich weiß nicht, ob Engel existieren und wollte auf keinen Fall eine Geschichte über niedliche Rauschengel schreiben. Racheengel mag ich ebenso wenig. Und traurig sollte es schon gar nicht sein! Aber losgelassen hat mich die Ausschreibung dennoch nicht.
Die Story
Der Soldat und sein Engel
In vielleicht 300 Jahren begegnen wir einem Soldaten ohne Namen, ohne Stimme und wohl auch ohne Gedächtnis. Er lebt irgendwo, im Niemandsland, vollkommen alleine. Nein, stimmt nicht ganz. Da ist sein Schutzengel Klawuttke, ehemals Berliner, er wurde gemeinsam mit seinem Schützling an diesen unwirtlichen Ort verbannt. Doch kann der Soldat ihn nicht sehen. Und zuhören will er ihm schon gar nicht.
Gedanken in der Grotte
Wie jeden Morgen seit unzählig vielen Tagen wartet der Soldat auf den Sonnenaufgang und sinniert im Geiste:
»Fern meiner Grotte existiert die Welt – der Gedanke flößt mir tags keine Furcht ein. Aber in traumtrunkenen Sekunden kurz vor Morgengrauen, wenn Finsternis nicht mehr jeden um Erlösung bettelnden Blick zurückweist, füllt sich mein Geist mit dem unbezähmbaren Entsetzen von Erinnerungen. Nach langen Sekunden zwinge ich mich, meine Zuflucht, die Grotte, zu verlassen, um mit dem neuen, stets gleichen Tag zu verschmelzen, in dessen schattenlosen Luftkegeln ich die Angst von mir streife. Ich stehe auf, sobald es mir befohlen wird.«
Erwiderung des Engels
Dieses Geseier ist nun tatsächlich schwer zu ertragen, so antwortet Engel Klawuttke:
»Mach keen Zimt! Keen Jeseier! Fatzke!«
Ewiges Erkunden
Der Soldat steht auf und führt, wie jeden Tag, seinen Befehl aus: Mit ausladenden Schritten marschiert er aus der Grotte zum Rand des Felsplateaus, postiert sich und – hält Ausschau. Dies tut er den lieben, recht langen Tag.
Der Soldat hat kapituliert, seine Lage erkunden zu wollen. Zu schroff, zu drakonisch recken sich uralte Feldwände zu hoch über kaum sichtbaren Erdschollen. Er lauscht den gellenden Rufen der Adler, dem neuen Tag salutierend, sehnt sich dabei nach dem Ruf der Eulen, dem Schrei der Dohlen, einem menschlichen Laut. Aber hier oben existiert, außer den Adlern – und unerklärlicherweise ihm – nichts. So wurden im Lauf der Epochen die Adler zu seinem ureigenen Synonym für ungesungene Gesänge, dem ungesagten Wort.
Rückschau in Vergessenheit
Irgendwie muss auch dort droben der Tag verstreichen und so ergeht sich der Soldat in Betrachtungen: des Himmels, der Wolken, ungeschliffener Steine, von Lichtfetzen und Sonnenflecken. Dabei spürt er weder Durst noch Hunger, fühlt keine Hitze, niemals Kälte, als wäre ihm eine absurde Immunität verliehen worden. Seine Uniform wurden schon längst, Fädchen um Fädchen, von Nebelfingern des immerzu fegenden Windes davongetragen. Immer wieder sucht er nach Erinnerungsfetzen.
Nur selten noch steigen Mosaike vage aus gestrigem Dunkel.
»STELLUNG HALTEN«, donnert dann eine Stimme durch seinen Kopf. Von Zeit zu Zeit, in den haltlosen Tiefen seiner Träume, sieht er sich steif vor lichtlosen Baracken stehen, den BEFEHL empfangend.
In solchen Momenten blickt er schnell zurück auf kühles Felspanorama, das Himmelsschauspiel – und vergisst.
Erinnerung an die Kunde
Das einzige, was dem Soldaten immer von Neuem durch den Kopf weht, ist der Halbsatz: bis die Kunde eintrifft. Doch selbst tiefes Nachdenken bringt ihn nicht näher zu seiner Erinnerung und so findet er ein anderes Ventil:
Ungezügelt durchlacht er trostlos sämtliche Tonstufen seiner Lebensarie. Eröffnet dynamisch als Tenor, siegt triumphierend als Bariton, verzweifelt klagend als Bass, spottet unbesonnen mit Lachsalven in Dur und endet schließlich, gebrochen, in Moll. Dann verstummt auch die letzte Regung in ihm. Er vergisst. Alles. Auch sich.
Klawuttkes Verzweiflung
Das ist wahrlich für den geduldigsten, Kummer erprobten Engel zu viel.
»Doofkopp«, krawallte Klawuttke. »So weit isset nu jekommen.« Beide Arme gen Himmel gereckt ruft Klawuttke mit klagender Stimme: »Mensch, Jott, Du könntest hier aba och mal wieder rinkieken, wa?«
Kommunikation mit Gott
So freundlich gebeten, lässt sich Gott nicht zweimal anrufen und antwortet mit Gewittergrollen, das der Engel aufgrund seiner Erfahrungen mit überirdischen Gereiztheiten umgehend richtig deutet: Gott versteht zwar neben jeder Sprache auch alle Dialekte – mag aber keinen. Warum?
Ein göttliches Geheimnis 🔒. Also versucht sich Klawuttke in Hochdeutsch. Und möglichst ohne Fluchen.
»Herr, der hier macht doch alles falsch (…) Ja, Mensch, mein Gott, Herr, ach was, der hört doch gar nicht zu! Nicht ein bisschen verstand er, was ich ihm überbringen sollte. Dabei war es ganz einfach, nur diesen verda-, verflix-, ach je, vermaledeiten Befehl hätte er missachten sollen. Selber nachdenken macht glücklich!«
Mit behaarten Händen reibt sich der Engel über den kahlen Schädel. Seine veilchenblauen Augen blicken in Richtung Gottes, ohne ihn zu erblicken.
»Dem Befehl gehorchen wollte er, aus reinem Daffke – Flitzpiepe! Pflichterfüllung! Ich – ich – ick konnte es nicht verhindern … die anderen Schutzengel lachen über mir, ick weeß det ja. Hilf, oh Herr!«
Die Gnade Gottes
Nun ist es an Gott, Schimpfwörter und Dialekt wohlwollend zu überhören und zu entscheiden, ob der Soldat und sein Schutzengel genügend gelitten und gelernt haben.
Mein Lieblingszitat aus Soldatenengel
Klawuttke: »War sein erster Krieg, wollte ein Held sein. Was wird denn aus Helden, hm? Bald erinnert sich keiner mehr. Spätestens dann machen sie wieder UNS für alles verantwortlich.«