Namenlos

Oder: Vom Eierkampf in Bulgarien und vom Tod in Deutschland

DAS KARUSSELL – Bergische Zeitschrift für Literatur

Utopie Heimat (Ausgabe 4)

Über die Ausschreibung

Karussell ist eine alte, neue Literaturzeitschrift, ursprünglich in den 80er Jahren gegründet und nach einer Ruhephase im Jahr 2012 auferstanden. Mit Beiträgen aus allen literarischen Gattungen (Prosa, Lyrik, Essay, Kunst, Erzählung, Interview), immer auf ein spezielles Thema konzentriert. In Ausgabe 4: Utopie Heimat.

Motiv(ation)

Heimat. Großes, emotionsgeladenes, ruhiges, kurzes Wort. Etwas, das wir haben. Oder wonach wir uns sehnen. Manchmal ein Leben lang. Besonders an Weihnachten. Oder Ostern. In stillen oder traurigen Stunden. Ein Wort, das niemanden kalt lässt.

Die Story

Wenige Tage

Die Geschichte eines Mannes, der aus Bulgarien auszog, um in Deutschland Geld für seine Familie zu verdienen. Ein Mann, der zur falschen Zeit un(ver)sicher(t) ist. Ein Mensch, der nach einem Unfall im Kellerloch auf ein gütiges Ende hofft.

Donnerstag

Kinderschuhe laufen am Fenster vorbei, tapsig schlurfen sie, unregelmäßig ist noch ihr Gang. Die Spritzen, die Karl mir umständlich setzte, haben endlich ge­wirkt, ein wenig länger, ein bisschen tiefer schlief ich. Unten, an den Beinen, ist mir unangenehm warm, höllisch pralle Haut droht zu plat­zen. Ich atme muffige Bettzeugluft und Schweiß. Niemand in diesem Land wäscht mich.

 

Taschen, Trolleys schweben, rollen schlingernd, als besäßen sie Willen. Mit Karl kommt ein Mann in Flip-Flops und un­förmigem Pullover über blassen Jeans. Er un­tersucht meine heißen Waden unter hochge­schlagener Decke, wie ein zer­knäul­ter Berg liegt sie auf meinem Bauch. Ich friere, doch lehrte mich Leben, still zu ertra­gen. Karl hält mir ein Wörter­buch Deutsch-Bulgarisch unter die Nase, deutet auf лекар, Arzt.

 

In Bulgarien bemalen Kinder heute, Großdonnerstag, hart ge­kochte Eier. Das erste auf dem Hof gelegte Ei wird rot ge­färbt, in Erinnerung an das Blut Jesu. Zur Zeit meiner Groß­el­tern wurde das rote Ei im Heimatacker vergraben, er­war­tungs­frohes Opfer für gute Ernten. Heute ruht es zumeist vor der Haus-Ikone, im oft engen Flur, ein ganzes Jahr. 

Link zum Karussell:

https://www.bergischerverlag.de/karussell/
(Stand 10/2024: Artikel nicht mehr veröffentlicht)

Mein Lieblingszitat aus Namenlos

ist der erste Absatz:

Sonntagnacht

Ich träumte von Julika, meiner Lieblingsziege, roch die erdsauren Äcker, spürte den lebendigen Wind und blickte über fettgrüne Grasflächen.

Ich war ein Hirte.